Hormesis belegt, dass nicht jeder Stress schlecht sein muss.
Hormesis mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, doch es ist ein grundlegendes biologisches Prinzip, das tief in den Mechanismen des Lebens verankert ist. Das Phänomen beschreibt eine Reaktion des Körpers, bei der eine geringe Dosis eines potenziell schädlichen Stressors – sei es Hitze, Kälte, Nährstoffmangel oder sogar bestimmte toxische Substanzen – eine adaptive Reaktion hervorruft, die die Zellen stärkt und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber größeren Belastungen erhöht.
Ein gutes Beispiel für Hormesis im Alltag ist das Konzept der körperlichen Bewegung. Während intensives Training den Körper stark belastet und Muskelgewebe kurzfristig schädigen kann, führt regelmäßige, moderate Bewegung zur Stärkung der Muskulatur, einer besseren Herz-Kreislauf-Gesundheit und einer insgesamt verbesserten körperlichen Kondition. Ähnlich wirkt sich auch eine Kalorienrestriktion aus, die nachweislich die Lebensspanne in verschiedenen Organismen verlängern kann. Hierbei setzt der zeitweise Nahrungsentzug den Körper unter einen milden Stress, der jedoch die Zellreparaturmechanismen aktiviert und damit eine positive Wirkung auf die Langlebigkeit hat.
Dr. Michael Ristow, ein renommierter deutscher Biochemiker, hat Hormesis besonders im Zusammenhang mit der Ernährung und der Wirkung von Antioxidantien erforscht. Seine Studien legen nahe, dass der Körper durch die Aufnahme von Antioxidantien in hohen Dosen möglicherweise daran gehindert wird, seine eigenen, natürlichen Abwehrmechanismen zu aktivieren, die durch leichte oxidative Belastung stimuliert werden könnten. In einer seiner bekanntesten Studien aus dem Jahr 2009 zeigte Ristow, dass moderate Mengen von oxidativem Stress – etwa durch körperliche Betätigung – die Gesundheit fördern und die Lebensspanne verlängern können, während eine übermäßige Zufuhr von Antioxidantien diese Vorteile zunichtemachen könnte.
Ein weiteres interessantes Beispiel ist die Verwendung von Pflanzenstoffen wie Resveratrol und Sulforaphan. Diese Verbindungen, die in Trauben bzw. Kreuzblütlern wie Brokkoli vorkommen, wirken in geringen Dosen als Stressoren, die das antioxidative Abwehrsystem des Körpers stärken. Die Pflanzen produzieren diese Stoffe selbst als Abwehrmechanismen gegen Umweltstressoren, und es scheint, dass auch der menschliche Körper von diesen Substanzen profitieren kann, indem sie ähnliche Schutzmechanismen aktivieren.
Die Theorie der Hormesis wird auch in der Alternsforschung intensiv diskutiert. Die Idee ist, dass das kontrollierte Aussetzen des Körpers gegenüber geringfügigen Stressfaktoren eine „Trainingseffekt“ auf zellulärer Ebene hervorruft. So könnte beispielsweise die regelmäßige Anwendung von Kälte (wie sie bei Kältekammern oder kalten Duschen angewendet wird) die Mitochondrien stärkt und entzündliche Prozesse reduziert, was zur Langlebigkeit beiträgt.
Ein weiteres faszinierendes Feld, in dem Hormesis eine Rolle spielt, ist die Strahlenbiologie. In sehr niedrigen Dosen kann ionisierende Strahlung eine hormetische Wirkung haben, indem sie Reparaturmechanismen in den Zellen aktiviert. Diese Effekte sind jedoch sehr spezifisch und abhängig von der Dosis sowie der Art der Strahlung.
Hormesis zeigt, dass der Körper durch kontrollierten Stress nicht nur widerstandsfähiger werden, sondern auch über längere Zeit gesünder altern kann. Es ist ein Konzept, das in vielen Bereichen von Medizin, Sport und Ernährung Anwendung findet und ein tieferes Verständnis der Balance zwischen Schaden und Nutzen in biologischen Systemen bietet.
Quellen:
- Ristow, M., & Zarse, K. (2010). How increased oxidative stress promotes longevity and metabolic health: The concept of mitochondrial hormesis (mitohormesis). Experimental Gerontology, 45(6), 410-418. DOI: 10.1016/j.exger.2010.03.014.
- Calabrese, E. J., & Baldwin, L. A. (2003). Hormesis: The dose-response revolution. Annual Review of Pharmacology and Toxicology, 43(1), 175-197. DOI: 10.1146/annurev.pharmtox.43.100901.140223.
- Mattson, M. P. (2008). Hormesis defined. Ageing Research Reviews, 7(1), 1-7. DOI: 10.1016/j.arr.2007.08.007.